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CD-DETAILS LET ME IN [SORGENTE]

Sorgente

Let Me In [Rock / Alternative]


RELEASE: 01.08.2008


LABEL: Sorgente Music

VERTRIEB: Groove Attack

WEBSITE: www.sorgente-music.com

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„Mäßigung ist eine verhängnisvolle Sache. Nichts ist so erfolgreich wie der Exzess.“
(Oscar Wilde, Eine Frau ohne Bedeutung, 3. Akt / Lord Illingworth)

Reden wir noch nicht von Musik. Reden wir zuerst von Energie, von Motivation, vom Drang, etwas zu (er)schaffen. Versuchen wir, das zu erfassen, was uns immer wieder dazu treibt, weiter zu gehen, mehr zu wollen, nach Besserem, Höherem zu streben. Das, was uns auch den achten, den neunten, den zehnten Longdrink hinunter schütten und uns nach dem fünften Korb einen sechsten, siebten, achten Versuch starten lässt. Gönnen wir uns den zeitlichen Luxus, uns das »Warum« zu betrachten:

„Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, vier Stunden Arbeit, Straßenbahn, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das »Warum« da, und mit diesem Überdruss, in den sich das Erstaunen mischt, fängt alles an“, schreibt Camus.


We Are The Same

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Sonderbarerweise wird die Frage nach dem »Warum« in der Musik kaum noch gestellt. Einer macht etwas, ein Anderer hört es sich an. Ende des Berichts. Ein Off-Beat erklingt, Batikröcke schwingen. Hip Hop dröhnt, Schirmmützen nicken. Gitarren: Bier. Sequenzer: Ecstasy. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag. Keine Reflexion. Leere Aktion. Dabei ist die Selbstreflexion der einzige Weg, auf dem sich Kunst heute noch rechtfertigen lässt. Wer sich des »Warums« nicht klar ist, gewinnt keine Visionen über das »Was« und noch weniger über das »Wie«. Erst wer sein Tun für sich selbst letztbegründet hat, wer tief genug in die eigene Motivlage hinab gestiegen ist, kann dem Wahn anheim fallen, der die volle Konzentration auf das Werk erlaubt – kann aus Harmonien Bilder formen, bloße Melodien zu echten, erfahrbaren Gefühlen werden lassen, Rhythmus zu einem physischen Erlebnis peitschen. Nur wer sich diesem emotionalen Exzess hingegeben hat, kann Musik frei übersetzt zu dem machen, was Kafka als „die Axt für das gefrorene Meer in uns“ bezeichnet hat.

Als Sorgente sich Ende 2007 selbst eine Konzertpause verordneten, um das lange erwartete Nachfolgealbum zu »First... And Then?!« in Angriff zu nehmen, tauchte die Frage nach dem »Warum« auf mehreren Ebenen in sehr grundlegender Form auf:
- Warum noch ein Album aufnehmen, für dessen Veröffentlichung es der Plattenindustrie an Mut fehlt, Geld auszugeben?
- Warum in etwas übermäßig Mühe investieren, das Andere in einer Woche, mit vier verschiedenen Akkordverbindungen und zwei verschiedenen Grooves erledigen?
- Warum neue Soundquellen erforschen, wenn das meiste Geld derzeit ohnehin mit schäbig aufgenommenen, verstimmten Gitarren verdient wird?
- Warum neue Ausdrucksmöglichkeiten erschließen, wenn am Ende die Frage steht, warum »Oh What a Day« heute wieder nicht gespielt wurde?

Und plötzlich tauchte hinter den vielen Fragezeichen ein wuchtiges Ausrufezeichen auf:

WEIL ES SONST NICHT GENÜGT
Mr. Jacobsen, Lead-Gitarrist der Band, beschreibt die Einsicht so: „Wir haben erkannt, dass es uns nicht mehr reicht, nur als gute Live-Band mit Stimmungsgarantie gehandelt zu werden. Es ist eine zeitlang ein tolles Gefühl, wenn auf deinen Shows Ärsche wackeln und Menschen springen. Aber irgendwann erkennst du, dass die Leute außer einem (Muskel)kater nicht viel mit nach Hause nehmen. Nach den Support-Shows mit P!nk wurde dann klar, wie kurz es uns selbst befriedigt, wenn 6.000, 8.000, 10.000 Ärsche wackeln. Und da haben wir realisiert, dass wir die Zuhörer zusätzlich auf einer anderen Ebene erreichen wollen.“

Und das erdrückende »Warum« verschwand, weil klar wurde, dass Kunst ihre Berechtigung bekommt, indem sie voran schreitet. Es wurde klar, dass das »Warum« im »Was« aufgehen kann. Und für das »Was« waren die Visionen zahlreich:

Ein Themen-Album sollte es werden – nicht unbedingt inhaltsschwer, dafür aber musikalisch konkreter als alles, was in der letzten Dekade aus München gekommen ist. Groß sollte es werden, pompös, modern produziert, mit einer Soundästhetik die eine hohe Clubtauglichkeit aufweist und trotzdem im bewährten Bandsound verwurzelt ist. Damit sollte es den immer wiederkehrenden Erinnerungen daran ein Ende setzen, dass München „in den 70er-Jahren musikalisch ja vielleicht mal interessant war, aber...“. „Unsere Stadt war schon einmal berühmt für die Produktionen, die hier entstanden“, sagt Sänger Fafuu. „Es war an der Zeit, ihr zu neuem Ruhm zu verhelfen, neue, abgefahrene Sounds zu entdecken und eine Produktion hinzulegen, an der du nicht vorbeikommst!“ Da die Band genug davon hatte, wie beim letzten Werk Jams zur Grundlage der Platte zu machen, stand auch ein weiteres Kriterium fest: „Wir waren durch mit Proberaum-Jams und wollten uns wieder auf interessante Harmonieverbindungen und tragfähige Melodien konzentrieren und mehr echte Hooks erschaffen – wirkliche Songs“, erklärt Sänger Ojam. „Gleichzeitig haben wir gemerkt, dass wir den harten und einzigartigen Groove, der die letzte Scheibe geprägt hat, brauchen. Dass wir ihn, selbst wenn wir wollten, nicht loswerden würden“, ergänzt Fafuu.

Bezüglich des »Was« hatte sich also auch ein Plan manifestiert. Leider stand vor dessen Realisierung ein recht gewaltiges »Wie«. Der Band waren gerade die Studioräume gekündigt worden, um Platz für Büroräume zu schaffen. Das gesamte Equipment war in einem schäbigen Industrie-Areal im Münchner Süden zwischengelagert und wurde sukzessive gestohlen.

An diesem Punkt trat das Management auf den Plan. Dieses war überzeugt davon, dass nur noch das Hinzuziehen eines Produzenten einen Ausweg aus der misslichen Lage ermöglicht und so fanden sich große Teile der Band Ende des Jahres regelmäßig in einem Tonstudio in Berlin Kreuzberg ein, um in koordinierten Recording-Sessions strukturiert zu arbeiten. Viele Tausende Euro später stand allerdings für jeden und vor allem auch das Management fest, dass hierbei jene Magie, die diese Band bisher stets ausgezeichnet hat im fehlenden Verständnis und Dialog mit dem Produzententeam auf der Strecke bleiben wird, und die kreative Verantwortung und mit sofortiger Wirkung erneut komplett in die eigenen Hände der Musiker gelegt werden muss. Man wird das Ende der Produktionszusammenarbeit in späteren Interviews wohl mit unüberbrückbaren künstlerischen und menschlichen Differenzen erklären müssen.

Und so kam es zu dem einzig sinnvollen Schritt, den Sorgente wiederum an diesem Punkt gehen konnten: Rückzug von jeder Fremdbeeinflussung, volle Konzentration auf die eigene Vision, die eigenen Ansprüche, die eigenen Qualitätsstandards – auf die treibende Stimme im Kopf! Die Bedingungen waren schwierig und namen bisweilen groteske, doch auch hörbar kreativitätsfördernde Ausmaße an: So entstand ein Großteil des Albums auf dem erst vor einem Jahr in New York erstandenen - und glücklicherweise vor Raubzügen bisher verschont gebliebenem - Studioequipment in diversen umfunktionierten Zimmern bis hin zur Saunaduschkabine in Fafuus und Mr. Jacobsens Wohnungen. Wieder andere Teile im Studio des Live-Mischers in Murnau und zu guter letzt in den Weilheimer Uphon-Studios von Mario Thaler – während dieser bereits die ersten Tracks mischte – freilich erst drei Wochen nach finalem Abgabetermin... das Resultat: Exile on Hauptstrasse sozusagen…oder:

LET ME IN
Sorgente haben mit dem LET ME IN etwas erschaffen, das anders tönt als alles, was in den letzten Jahren musikalisch aus der bayerischen Landeshauptstadt herausklang. Ein Album, dem man die tiefe Groove- Verwurzelung der sechs Münchner immer noch deutlich anhört, das aber Klangwelten umfasst, für die man sonst eine Woche lang sämtliche Clubs einer Großstadt besuchen muss, um am letzten Tag schließlich um 9 Uhr morgens mit den Stammgästen im 24-Sunden-Lokal zu frühstücken. Groß, pompös, modern, glamourös und trotzdem erdig, hart, dreckig und gefühlvoll enthält LET ME IN eine Soundästhetik, die das Beste der Zeit zwischen 1982 und 2020 in sich vereint. Als hätten Lenny Kravitz (aus den 90ern) und Prince (aus den 80ern) neben den Lagerfeuergesängen der Gebrüder Isley (aus den 60ern) ein Kind gezeugt, das nach der Scheidung vom Taufpaten Supermax (aus den 70ern) großgezogen wurde und sich in den Sommerferien bei Onkel John Frusciante und Tante Jennifer Batten Gitarrenspiel abgeschaut hat, um es vermessen an großen Namen fest zu machen. Unvorstellbar aber wahr ist dabei, dass nahezu 100 Prozent der Klänge von Schlagzeug, Bass und Gitarren erzeugt wurden und auch ansonsten fast nur analoges Equipment zum Einsatz kam!

Konzeptionell und inhaltlich hat LET ME IN vordergründig den Exzess, die Zerstörung und die Erotik ausufernder Clubnächte zum Inhalt, lässt aber auch die Genesis und Selbsterkenntnis zu, die als Ruhe nach diesem Sturm einkehrt und emotionale Tiefe zulässt. Als würden Charles Bukowski und Frederic Beigbeder eine gemeinsame Sauftour beschreiben, an deren Ende Erich Fried ein ausuferndes Plädoyer für die Liebe hält. Es skizziert damit aber vor allem Mechanismen, die allgemeingültig und ubiquitär für das gesamte Leben, für alle Formen menschlicher Interaktion stehen.

Der Band ist dabei der seltene Kunstgriff geglückt, die exakte Dosierung von Größenwahn und Demut, von Arroganz und Verletzlichkeit von Pomp und Dynamik, von Haltlosigkeit und Klarheit zu finden, die man für einen perfekten Absturz, die Eroberung einer schönen Frau aber eben auch ein ausgeglichenes und zufriedenes Leben benötigt.

Und die Schublade? Wo sind Sorgente jetzt eigentlich wirklich einzuordnen?
„Solange wir in Bezug auf unseren Sound die Gattungen »Reggae«, »Ska«, »Latin« und »World« nie wieder lesen müssen, ist es uns eigentlich egal“, sagt Mr. Jacobsen abschließend um aber gottlob doch auch noch gleich hinzuzufügen: »Psychedelic-Disco-Pop« oder »Psychedelic-Groove-Rock« trifft es vermutlich am besten…“

Fazit: SORGENTE bewegen sich in keiner Szene und ordnen sich keiner Szene unter, sondern schaffen sich vielmehr ihre ganz eigene, wo im Gegensatz zu anderen Szenen niemand mehr bettel muss um eingelassen zu werden, sondern jeder willkommen geheißen wird, der heute noch mit Offenheit und Liebe Musik in ihrer unterschiedlichsten Ausprägungen zu genießen versteht…

(Quelle: Alexandra Doerrie, Another Dimension, 2008)


FORMAT: CD


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